
Wozu das Psychozeug? Ein Kommentar über die Wichtigkeit elterlicher Selbstreflexion
Neulich wurde ich gefragt: Wozu das ganze Traumagedöns? „Dichtest du den Leuten nicht ein Trauma an, wo keins ist? Das ist doch übertrieben. Es gibt viel Schlimmeres!“
[Spoiler: Es folgte ein warmes, konstruktives Gespräch über Entwicklungstrauma. ♥]
Am Rande vorweg: Bagatellisieren ist natürlich die Überlebensstrategie schlechthin. Kennen wir wohl alle. Wäre ja auch dramatisch sonst.
Aber gut, zur Frage: Ja, Anne, wozu das ganze Psychozeug?
Warum, wenn das doch so schmerzhaft ist?
Kriegt man da nicht nur Schuldgefühle? Sät man nicht nur Missgunst und ist undankbar gegenüber den eigenen Eltern? Junge Eltern werden oft regelrecht GEWARNT, jaaaa nicht zu viel zu lesen von diesen neuen Erziehungsmoden, die eh nur Rockzipfelhänger oder Tyrannen produzieren! Als ob das eine Art Hippie-Sekte wäre.
Ich sag mal so: Wir können natürlich leugnen, dass die Art, wie wir schwanger sind, gebären und Kinder ins Leben begleiten, SEHR viel (wenn nicht gar alles irgendwie) mit unseren eigenen frühesten Erfahrungen zu tun hat, ja.
Aber wie gehen wir dann mit den Herausforderungen des Alltags als Eltern um?
- Verzichten wir dann lieber auf Empathie und Trösten? Vielleicht drücken wir dann den eigenen Schmerz weg, ernten dafür ersatzweise tonnenschwere Wut und schimpfen?
- Fordern wir dann vielleicht viel zu viel Anpassung/ Pseudoreife von unseren Kindern und kompensieren damit unsere eigene innere Unreife?
- Schieben wir dann dem Sorgenkind die Verantwortung für die täglichen Konflikte in die Schuhe, anstatt selbst in die Verantwortung zu kommen und nach unserem Anteil und unserer Beziehungsqualität zu fragen?
- Fordere ich VON MEINEM KIND, seine Gefühle zu unterdrücken, weil ICH SELBST die Scham in der Öffentlichkeit als brennend heiße Bedrohung empfinde?
Wenn ich die Führung als Erwachsener nicht übernehme und selbst die Verantwortung für mein Wohlergehen übernehme, werde ich IMMER die schnelle Lösung wählen. Und ich garantiere, das wird auf Dauer langfristig für Probleme sorgen. In welcher Weise auch immer und auf wessen Rücken auch immer.
Ich bin verantwortlich für mein Kind
ICH bin erwachsen. ICH will reif sein. ICH übernehme die Verantwortung. Und das KANN ich nur über Selbstreflexion. Weil alles andere pseudoreif, scheinverantwortungsvoll und eben KEINE gute Führung ist. Wer nicht in die Selbstreflexion geht, lügt sich selbst die Taschen voll, wenn er sich einbildet, eine gute Verbindung zu seinem Kind zu haben.
Wir sind emotional nicht verfügbar, wenn wir dauerhaft unterschwellig unsere Traumaverstrickungen, verdrängten Gefühle und unliebsamen Anteile versuchen, im Zaum zu halten.
weltfremd.net
Nur durch Mitgefühl mit mir selber kann ich ins Mitgefühl mit meinem Kind gehen.
Ansonsten muss ich permanent, um meinen eigenen verdrängten Schmerz von mir wegzuhalten, auf Distanz gehen. Dann muss ich schimpfen. Dann muss ich ignorieren. Dann muss ich mir einreden: „Die ersten drei Jahre vergessen sie ja eh.“
Ich sage:
Selbstreflexion für Eltern ist eine Pflicht. Denn wir tun das nicht nur für uns, sondern auch und vor allem für unsere Kinder – und die folgenden Generationen.
Alles Liebe für dich und deine Familie
Anne
PS: Teilen ist gut fürs Karma, wie du weißt. 😉
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