Entwicklungstrauma Bindungstrauma Psychotrauma

Entwicklungstrauma (Bindungstrauma): Was ist das eigentlich?

Ich lade dich herzlich ein, diese Gedanken zu teilen.

Entwicklungstrauma? Da denken wir spontan an Naturkatastrophen, brutale Vergewaltigung, verwahrloste Drogenheime oder Überfall mit Handfeuerwaffe. Im Vergleich dazu lässt sich super demütig sagen: Ich hatte eine schöne Kindheit!

Aber stimmt das? Ich sag mal so: Wir neigen alle dazu, unsere Vergangenheit und unsere Eltern zu idealisieren. Aber die schlechte Nachricht ist: Das ist einfach nur eine Schutzfunktion unserer Psyche.

Ein Entwicklungstrauma sieht anders aus

Was ist zum Beispiel damit:

Eltern, die unter permanenter Geldnot leiden und deshalb emotional nicht anwesend sind? Verzweifelte Eltern, die Trigger vermeiden müssen, um inneren Schmerz weiter verdrängen zu können – die lenken ihr Kind mit Medien oder Geschenken ab, aber spenden keine herzliche Wärme und Trost?

Und diese Eltern, die unter grausamem Schlafmangel leiden und auf ihre Schwiegermutter hören, die sagt: drei Nächte schreien sie und dann schlafen sie durch?

Wenn du solche Eltern hattest – dann warst du traumatischen Erfahrungen ausgesetzt, die du abspalten musstest, weil du die Verzweiflung, die Angst, die Einsamkeit nicht hättest ertragen können. Schlau von deiner Psyche: Du hast überlebt. Aber inzwischen? Läuft es doch nicht ganz so rund? Nach außen scheint zwar alles super, aber innerlich hakt es irgendwie?

Her mit den Bewältigungsstrategien

Emotionales Essen? Immer mal zwei Gläschen Wein, weil diese verdammte Anspannung anders nicht verschwindet? Oder kommt ständig diese unglaubliche Wut hoch?

All das sind Traumaüberlebensstrategien oder Symptome. Das Gefühl von innerer Wertlosigkeit versuchen wir zu überdecken mit Leistung und Anerkennung. Die fürchterliche Anspannung wird zu Nackenschmerzen. Die ständige Nervosität bekämpfen wir mit der Zigarette. Die eigene Identitätslosigkeit übertünchen wir mit fanatischer Ersatzidentifizierung: Der 1. FC Köln wird dann zum Lebensinshalt.

Die Anderen sind schlimmer dran?

Dich mit Kinderprostituierten zu vergleichen und dagegen dein Leid kleinzureden, wird deine Probleme nicht lösen. Nicht gewollt gewesen, emotional nicht aufgefangen oder allein gelassen worden zu sein – auch DAS ist Trauma. Und das will erst geheilt/ integriert werden, bevor Nägelkauen, Trigger und die Handysucht verschwinden können.

Dami Charf vergleicht Schocktrauma und Entwicklungstrauma mit einer eingängigen Metapher:

„Ein Schocktrauma ist wie ein falschfarbiger Faden in einem sonst gut gewebten Teppich. Zieht man ihn heraus, ist der Teppich immer noch in Ordnung. Bei einem Entwicklungstrauma müsste man so viele Fäden ziehen, dass sich der Teppich in Form und Farbe verändern würde. Durch lang anhaltenden Stress prägen sich das gesamte Weltbild und Selbstbild eines Menschen vollkommen anders und tiefgreifender als durch einen Schock.“

Dami Charf: Auch alte wunden können heilen*, s.26.

Was ist genau ist ein Enwicklungstrauma?

Das Entwicklungstrauma ist eine schwerwiegende, aber leider pandemisch verbreitete seelische Verletzung, die in der frühen Kindheit entsteht. Deine frühe Kindheit – an die du dich nicht erinnern kannst – hat gravierende Auswirkungen auf dein gesamtes Lebensgefühl. Scheinbar normale Kindheitserfahrungen können deine Psyche vergiften und dir bis heute im Wege stehen.

Das Entwicklungstrauma entsteht, wenn ein Kind über einen langen Zeitraum innerem Stress ausgesetzt ist: dadurch dass es sich hilflos fühlt (Baby alleine schreien lassen), dauerhaft unterdrückt wird oder physische/ psychische Gewalt erfährt. Das in den frühsten Jahren noch extrem störanfällige Nervensystem des Kindes nimmt durch Dauerstress Schaden.

In den allermeisten Fällen geschieht das unabsichtlich, und nicht weil Eltern grausam sind. Es geht mit Unwissen, Vorurteilen oder mangelnden Fähigkeiten (z.B. fehlende Empathie) einher. KEIN Ereignis ist dabei PER SE traumatisch. Aber wenn ein Kind eine SUBJEKTIVE BEDROHUNG erfährt, der es NICHT ENTFLIEHEN kann, entwickelt sich die Überzeugung, falsch, ungenügend oder unerwünscht zu sein.

Mögliche Ursachen

• sehr strenge, gefühlskalte Eltern

• nicht ernst genommen werden

• Eltern mit psychischen Störungen (Depressionen oder Alkoholismus)

• „Du hättest lieber ein Mädchen werden sollen!“

• häufiges Anschreien, Beschuldigen, Demütigen

• Schläge, Missbrauch, Isolation

• häufig wechselnde Bezugspersonen, Wohnorte

• Scheidung der Eltern oder wechselnde PartnerInnen

• Geburt eines Geschwisterkindes

Kinder haben nur eingeschränkte Möglichkeiten diese Verletzungen zu verarbeiten, deshalb spalten sie sie ab. Es bleiben also verdängte Anteile im Unterbewusstsein und auf Körperebene stecken.

Diese werden später z.B. zu:

Mögliche Symptome

• psychosomatischen Problemen (Schmerzen, Verspannung, Übelkeit…)

• Angst, Unsicherheit

• Grübelei, Zerdenken

• toxischen Scham- und Schuldgefühlen

• Depressionen

• Sucht (nach Anerkennung, Sex, Drogen…)

• Schutzpanzer (Körperfett, Verspannung, Leistung, Gefühlskälte…)

Et voilá: da ist das Entwicklungstrauma. Wenn du also eine von diesen „schönen Kindeheiten“ hattest und nun im Alltag trotzdem wiederkehrende Konflikte hast, mit Symptomen kämpfst, dich falsch fühlst oder unglücklich bist: Du bist richtig. Deine Bewältigungsstrategien und Symptome sind eine gesunde Reaktion auf etwas absolut Ungesundes, das dir in deinen ersten Lebensjahren widerfahren ist.

Was können wir tun?

Dieser Artikel ersetzt natürlich kein Therapiegespräch oder professionelle Behandlung. Auf dem Markt gibt es allerdings unzählige Angebote. Zur Orientierung gebe ich aus eigener Erfahrung und Recherche hier einen (sicher unvollständigen) Überblick mit Literaturtipps:

Psychoanalyse, Traumatherapie und Tiefenpsychologie:

Hans-Joachim Maaz beschäftigt sich intensiv mit dem frühen Trauma in Der Lilith-Komplex* und Das falsche Leben*. Inga Erchova vertritt in Jede Mutter kann glücklich sein* die Arbeit mit dem inneren Kind. Eine absolute Erxpertin auch für schwere und schwerste Traumatisierungen (und unglaublich herzliche Frau) ist Michaela Huber. Über die modernsten Methoden der Traumabehandlung schreibt sie u.a. in: Trauma und die Folgen.*

Somatic Experience und körperzentrierte Therapie:

Nach Dami Charf und Peter Levine integriert dieses Verfahren Traumata mit Körperarbeit. Diese Methode verwenden oft Heilpraktiker für Psychotherapie. I.d.R. muss sie selbst bezahlt werden. In diesem Buch bekommst du ein Gefühl davon, ob der Ansatz zu dir passt: Charf: Auch alte Wunden können heilen*. In Heller/ Lapierre: Entwicklungstrauma heilen* wird das neuroaffektive Beziehungsmodell NARM vorgestellt.

Anteileaufstellungen:

Dieser Ansatz muss i.d.R. auch selbst gezahlt werden. Er funktioniert über Resonanz und integriert frühe (auch vorsprachliche und pränatale) Verletzungen durch das Aufstellen der eigenen Persönlichkeitsanteile.

Hast du Interesse daran, eine Anteileaufstellung durchzuführen? Schreib mir gerne an anne@weltfremd.net ♥ Hier findest du meine Angebote.

Akuttrauma:

Akute Traumatisierungen werden oft mit dem EMDR-Verfahren als Kassenleistung behandelt. Besprich das im besten Fall mit geeigneten Psychologischen Psychotherapeuten, Psychiatern oder deinem behandelnden Hausarzt.

Wovon ich persönlich abrate:

Alles, was als Bewältigungsstrategie gelten darf, ist für mich auf lange Sicht gesehen eine Art stabilisierender Fake. Zwar können Meditation, Resilienztrainings, reines Coaching, Positives Denken etc. für eine Zeit lang eine gute Möglichkeit sein. Sie sind aber nicht in der Lage, abgespaltene Anteile zu integrieren. Strategien kosten uns (Willens-)Kraft und müssen dauerhaft angewandt bzw. sogar gesteigert werden, um zu funktionieren.

Ich wünsche dir Mitgefühl mit dir selbst, und dass du deinen Schmerz anerkennen kannst. ♥

Liebe Grüße

Anne

Weiterlesen:

Ich lade dich herzlich ein, diese Gedanken zu teilen.

Baby schreien lassen, Bindungstrauma, Dami Charf, Entwicklungstrauma, Franz Ruppert, Peter Levine, Psychotrauma, Schlaftraining, Trauma durch Erziehung

Kommentare (3)

  • Liebe Anne,

    du scheinst ja super viel gelesen zu haben. Leider fehlt mir selber das Geld für alle Bücher.

    Ich habe von beiden Therapieformen schonmal gehört. Wie sollen denn so körperorientierte Verfahren gehen?
    Die hohe Ladung spüren und diese regulieren? Und wenn explizite Erinnerungen kommen mit denen arbeiten?

    Wie ist das bei der IOPT? Wird hier auch „reguliert“? Gerade wenn was hochkommt? Oder ist das quasi Trauma neu erleben und keine neue „Erfahrung“?

    Liebe Grüße und wunderbarer Blog!!!

    Lisa

    • Liebe Lisa,
      ich habe viele Bücher zu diesen Themen in Bibliotheken ausgeliehen oder gebraucht gekauft. Vielleicht sind das auch Optionen für dich?

      Über körperorientierte Traumaintegrationsmethoden kann ich keine aussagekräftigen Infos geben, weil ich darin keine Ausbildung habe; und ich mag nur schreiben, wovon ich Ahnung habe. Hierzu bitte die enstprechenden Experten konsultieren.

      In der IoPt spielt die Selbstregulation keine explizite Rolle, da das Nervensystem hier eher als eines unter weiteren Subsystemen des menschlichen Organismus betrachtet wird (neben Hormonsystem, Verdauung, etc.). Traumabedingte Dysregulation gilt dann eher als ein Symptom, das man sich genauer anschauen kann. Die Selbstbegegnung ist nach meiner Erfahrung eine sanfte Methhode, bei der man, wenn man professionell begleitet wird, keine Angst vor überwältigenden Gefühlen oder gar Ratraumatisierung haben muss. Die schlimmsten Traumaerfahrungen zeigen sich in der Regel erst dann, wenn die Ich-Struktur genug gestärkt wurde und im Gesamtsystem ausreichend Stabilität vorhanden ist – oder eben anders gesagt, wenn die Selbstregulation besser funktioniert. Das geschieht nach meiner Erfahrung automastisch und Schritt für Schritt, je mehr Traumaspaltung überbrückt wird und je näher man „zu sich“ kommt.
      Genaueres habe ich in den FAQ beschrieben:
      FAQ: Häufig gestellte Fragen zur Selbstbegegnung nach IoPt (Identitätsorientierte Psychotraumatheorie und -therapie)

      Und danke noch für deine Wertschätzung! ♥
      Ganz liebe Grüße
      Anne

  • Hallo Ihr Lieben,

    Ich beschreibe mal mit meinen Worten, wie ich Trauma heute sehe, aus meiner eigenen Entwicklung und meinem Bewusstsein für Trauma:

    „Mit meinen Erwartungen/Vorstellungen/Ideen über andere Menschen erschaffe ich mir mein eigenes Gefängnis.“

    Was heißt das?
    Wir leiden nur an unseren Gedanken (Projektionen) von Gefahr (Handlung: Angriff, Verlassen werden, Ignorieren) in Bezug auf andere Menschen, die uns näher kommen. Dies führt zur Dysregulation im Autonomen Nervensystem, also verursacht Stress bis hin zu Angst, Despression im Körper. Das nennt man Trauma – Stichwort: Polyvagaltheorie von Dr. Steven Porges. Die Ursache sind die destruktiven Beziehungsmuster aus der Kindheit.
    Wie sieht die Lösung aus?
    Nämlich diese Gedanken/Projektionen in die Kommunikation bringen und den „Realitätscheck“ machen.
    Beispiel: ich teile meinem Partner mit:
    „Ich fühle Traurigkeit, ich habe das Bedürfnisse nach mehr Nähe, ich spüre Angst, Mein Kopf denkt, Du willst mich verlassen (Projektion). Ist das so? Willst Du mich jetzt verlassen? (Realitätscheck).“
    In der Regel antwortet der Partner dann: „Nein, ich möchte Dich nicht verlassen.“ In diesem Moment ist Schluss mit Leiden, Schluss mit Angst und Schluss mit Stress im Körper. Und die alten Beziehungsmuster werden überschrieben mit der neuen Erfahrung, dass das Mitteilen der Gefühle und Bedürfnisse, die wir als Kind unterdrückt oder verdrängt haben, nicht mehr Lebensbedrohlich ist. Funktioniert mit mathematischer Präzision. Muss man vielleicht ein paar mal machen, doch irgendwann ist das System so stabil, dass man vollständig mit anderen Menschen in Kontakt gehen kann, sich also ohne die Projektion von Gefahr über Gefühle, Bedürfnisse und Gedanken austauschen kann.
    Hat bei mir selbst so funktioniert. Seitdem ist Schluss mit Stress und Angst im Körper und leidvollen Zuständen. Wenn die Gefühle wieder angetriggert werden, teile ich diese sofort mit. Dann muss ich sie auch nicht mehr ausagieren.
    Die Lösung des Entwicklungstrauma kann also nur im Bindungskontext stattfinden, eine Heilung allein gibt es nicht.
    SE, EMDR, TRE helfen bei Schocktrauma, da sie dazu dienen, die Ladung aus dem Körper zu bekommen, aktualisieren aber das Bindungsmuster nicht. Ich empfehle NARM (Larry Heller), Ehrliches Mitteilen und FLOATING (von Gopal Norbert Klein).

    Herzliche Grüße Jens

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

News direkt ins Mailfach

Sei mein Gast im Newsletter.

Ich bin Anne, leidenschaftliche Schreiberin und immerfort lernende Mutter zweier Kinder. Süchtig nach anspruchsvollen Büchern und mit einer Schwäche für ausgezeichneten Schwarztee. Auf meinem Blog WELTFREMD setze ich mich seit 2019 für friedvoll-authentische Elternschaft ein und kläre über Entwicklungstrauma auf. ♥

Mamablog | WELTFREMD | Selbstreflexion für Mütter | Identitätsorientierte Psychotraumatheorie und -therapie | IoPt | Mama gut. Alles gut. | Beziehungsorientierte Familie | Entwicklungstrauma | Selbstfürsorge für Mütter

Lass uns in Kontakt bleiben


Mit ♥ gemacht von Anne. Alle Rechte vorbehalten.