Transgenerationales Trauma

Transgenerationales Trauma: Wie wird es über Generationen weitergereicht?

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Warum ist Susanne mit den unerträglichen Verlustängsten ihrer früh verwaisten Mutter verstrickt, obwohl sie nie einen dramatischen Verlust erlebt hat? Und Stefan fragt sich: Wie kann es sein, dass das Kriegs- und Hungertrauma seiner Großmutter noch heute sein Essverhalten negativ beeinflusst? Er hatte doch immer genug auf dem Tisch?

Aus einem simplen Grund: Psychische Traumatisierungen werden transgenerational weitergereicht. Wenn Eltern ihre seelischen Verletzungen nicht aufarbeiten, übertragen sie sie auf ihre Kinder.

Wie werden transgenerationale Traumata weitergereicht?

Das passiert vorrangig durch:

  • frühe Bindungsverletzungen (nach IoPt)
    • Entwicklungstrauma/ primäres Trauma: ungesunde Beziehungsmuster übernehmen und weiterreichen (Gefühle verdrängen, emotionale/ körperliche Gewalt, kein Mitgefühl etc.)
    • Transgenerationale Verstrickung: Bindung an elterliche Traumaanteile (als Überlebensstrategie)
  • und Epigenetik (salopp gesagt: Gene ändern sich durch Umwelteinflüsse)

Negative Bindungserfahrungen und Bindung an Traumaanteile

Ein kleines menschliches Wesen sucht vom Moment seiner Entstehung an nach Bindung. Wir können uns nicht NICHT binden. Bindung ist überlebenswichtig. Sind Eltern aber traumatisiert, also stark in ihren Überlebensstrategien gefangen, und haben zu wenige oder zu instabile gesunde psychische Anteile**? Dann können sie keinen emotionalen Kontakt zu ihren Kindern aufbauen. Der kleine Mensch erfährt also (manchmal schon pränatal) fehlende Bindung – das ist lebensbedrohlich!

Deshalb greift SOFORT die Überlebensstrategie: Ich binde mich an das, was da ist. Und das ist eben oft: einer der Traumaanteile** der Eltern. Und zack: Da haben wir Verstrickung, Fremdgefühle, transgenerationale Traumata.

**Was ist ein Persönlichkeitsanteil? Innere Anteile sind nicht nur eine Metapher, wie das „innere Kind“, sondern neurophysiologische Repräsentanzen früher Erfahrungen. Ein innerpsychischer Anteil zeigt sich im Hirn als Netzwerk von Nervenzellen, das sich gebildet hat, nachdem es wiederholt bestimmte Erfahrungen gemacht hat. Der Anteil hat eigene Erinnerungen, Körperempfindungen, Gefühle, ein Alter, ein bestimmtes Weltbild, eigene Symptome etc. [Vgl. König 2021.]

Das heißt: Die Bindungsverletzung AN SICH traumatisiert uns (= primäres Trauma/ Entwicklungstrauma) UND die Verstrickung als Überlebensstrategie mit den Traumaanteilen der Eltern/ Großeltern (= transgenerationales Trauma).

Epigenetik und Umwelt

Traumatischer Stress wird außerdem über die DNS weitergereicht

Umwelteinflüsse ändern mittels bestimmter aktivierender oder deaktivierender Moleküle unsere Genstruktur. Und diese Veränderung vererben wir weiter. Genetisch ungünstige Voraussetzungen können aber kompensiert werden, wenn z.B. prä-, peri- und postnatale Umwelterfahrungen positiv sind. Und umgekehrt, wenn sie negativ sind.

Heißt: Du kannst superdupergute Gene haben. Aber wenn deine frühen Erfahrungen sind: Ablehnung, Hass, Kontaktlosigkeit? Dann verändern sich deine Gene zum Schlechten. Verschiedene Marker im Blut und in der Hirnstruktur sind dann messbar: Der Hormonhaushalt kommt ins Ungleichgewicht, bestimmte Bereiche im Gehirn ändern Größe, Struktur und Funktionsweise, Stressrezeptoren vermehren sich.

Du spürst dann vielleicht Schmerzen stärker als andere. Oder gerätst deutlich schneller in Stress. Oder du kannst dich nicht entspannen. Du bist extrem sensibel. Du gerätst in Panik. Etc.

Welchen Sinn hat dieser Mechanismus?

Das hat ursprünglich einen Sinn: Die Natur sorgt dafür, dass wir uns optimal an die Umwelt anpassen. Sind unsere Gene für das entspannte Urlaubsparadies gemacht, nützen sie uns im Vorhof der Hölle natürlich nichts, wenn’s ums Überleben geht. Denn im Kampf um Fressen und Gefressen-werden ist immer die Hauptsache: Überleben.

Witterst du nun als winziger Bauchbewohner den (überwältigenden, traumatischen oder chronischen) Stress deiner Mutter, dann musst du dich anpassen – auch genetisch. Denn du willst ja in der scheinbar gefährlichen Umgebung da draußen überleben.

Zwei Beispiele

Der ungeborene Ureinwohner des Amazonasregenwaldes stellt sich schon im Mutterbauch auf das dortige Nahrungsangebot ein: Was isst die Mama? Das Ungeborene im Kriegsgebiet stellt sich in Anlehnung an den dauerhaften Stresspegel der Mama auf etwas anderes ein: HUNGER und GEFAHR. Seine Stressrezeptoren zählen also ein Vielfaches derer des Babys, das gerade im Urwald in den himmlisch artgerechten Strukturen des Ureinwohnerstammes geboren wurde.

Das Kind aus dem Kriegsgebiet wird später im friedlichen Nachbarland die nackte Panik bekommen, wenn es irgendwo knallt. Es wird einen stressigen Alltag reinzenieren und Probleme „wie magisch“ anziehen. Es wird in Triggermomenten nicht mit Neugier und Gelassenheit reagieren, sondern mit erhöhten Stresshormonen im Blut.

Das Ureinwohnerkind im Amazonas hingegen hat später auch in herausfordernden Situationen ein niedrigeres Stresslevel im Blut und wird auf Probleme angemessen und konstruktiv reagieren können.

Das ist Evolution im Kleinen.

Was lernen wir daraus?

Wir sollten zumindest anfangen, unsere Altlasten aufzuräumen. Unseren Kindern und uns selbst zuliebe. Je stabiler unsere gesunden Anteile, umso gesünder ist die Bindung, die wir unseren Kindern bieten können. ♥ Und ja: Therapie kann dann nachweislich unsere Hirnstruktur wieder zum Positiven verändern.

Ich geh los. Kommt jemand mit?

Herzensgrüße

Anne

Quellen:

Weiterlesen:

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Kommentare (2)

  • Guten Morgen,

    Man bekommt aber ja nicht unbedingt ein Trauma weiterverarbeitet nur weil die Mutter traumatisiert ist?! Wenn die Mutter sich Ihre Traumata bewusst ist (zwar noch nicht an sich arbeitet), aber bewusst eine Bindung eingeht und nicht die selben Dinge tut wie die eigenen Eltern muss ja keine traumatisierung entstehen?

    Genauso ist das doch auch bei prä und perinatalen Trauma. Nur weil die Mama traumatisiert ist und eine gewisse Ladung hat geht es nicht über. In der Schwangerschaft entwickelt sich ja auch ein Hormon?! Was zu einem gewissen Grad schützt.

    Ich sage bewusst Gewissen Grad.

    Geht ihr bei der IOPT davon aus nur weil man es dann weiß ist es weg?! Manche wissen ja zB dass sie missbraucht werden. Heilt ja nur leider nicht.

    • Hallo Frauke,
      was ich in den Traumaprozessen erlebe, ist tatsächlich das, was ich oben beschrieben habe.
      Selbst wenn Eltern sich vom Kopf her bemühen, bindungs-/beziehung-/bedürfnisorientiert ihr Familienleben zu gestalten, sie aber trotzdem stark in den Überlebensstrategien stecken, können sie einfach in der Tiefe keinen emotionalen Kontakt anbieten und bekommen dann trotzdem irgendwelche Probleme/ Symptome/ Konflikte mit ihren Kindern. (Solche Verstrickungen sind gerade in Liveprozessen ja direkt bildlich zu sehen.) Und die Probleme (bei den KlientInnen oder deren Kindern) können sich erst dann auflösen, wenn an der richtigen Stelle Integration stattfindet.

      Und auch da: Wissen ist NICHT integrieren. Das ist ein großer Unterschied. In der IoPt geht es nicht so sehr um den Kopf, kognitive Analysen oder ähnliches, sondern es geht um emotionale Integration. (Ich weiß nicht, ob ich den Begriff Heilung gut finde…)

      Es gibt auch keine Hormone, die vor der Weitergabe transgenerationaler Traumatisierungen schützen. Entschweidend als Schutz ist eher die Frage: Wie viele gesunde Anteile hat die Mutter?

      Liebe Grüße
      Anne

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Ich bin Anne, leidenschaftliche Schreiberin und immerfort lernende Mutter zweier Kinder. Süchtig nach anspruchsvollen Büchern und mit einer Schwäche für ausgezeichneten Schwarztee. Auf meinem Blog WELTFREMD setze ich mich seit 2019 für friedvoll-authentische Elternschaft ein und kläre über Entwicklungstrauma auf. ♥

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