Gehorsam in der Erziehung: Wie er funktioniert und welche psychischen Spuren er hinterlässt
Neulich erhielt ich sinngemäß diesen Kommentar: Ich will aber, dass mein Kind XY tut, und Anne, dein Konzept funktioniert da einfach nicht!
Da habe ich beschlossen, etwas zu Gehorsam zu schreiben.
Gehorsam in der Erziehung als Mittel zum Zweck?
Denn dieser Spirit weht mir oft um die Ohren.
„Was soll ich eben tun, wenn er sich weigert?“
„Es gibt ja keine Alternative, wenn sie nicht hört!“
„Also ein bisschen spuren müssen sie schon!“
Liebe Welt,
nein. Kinder kooperieren zwar immer mit uns (und unseren inneren Anteilen), aber kooperieren heißt nicht gehorchen.
Ganz großer Unterschied.
cooperari = mitwirken
Ein Kind, das uns spiegelt, das kooperiert, lehnt sich unter Garantie an irgendetwas in uns oder unserem Leben an. Wenn es rebelliert, will uns sein Verhalten etwas sagen. Kein Kind will Machtkämpfe.
Wenn Eltern mit ihren Kindern in Machtkämpfe geraten, kommen sie mir bockiger vor als manch 3-Jähriger.
Mehr darüber gibt es in Machtkampf oder Kommunikation: Wie bringe ich mein Kleinkind dazu, sich anständig zu verhalten?
Unsere Vorstellungen davon, wie sich Kinder zu verhalten haben, wie laut oder leise sie sein dürfen, wie wild oder brav sie sein sollen, sind massiv davon geprägt, wie wir selbst als Kind erzogen worden. Das heißt, die natürliche Lebendigkeit eines Kindes, das völlig normal entwickelt und auch altersgemäß sozialisiert ist, wird i.d.R. viel zu negativ bewertet. Es ist normal, das Kinder quietschen, zerren, streiten, mal handgreiflich werden und einfach öfters das tun, was ihnen und nicht uns passt. Wenn wir sie als „zu laut“ empfinden, triggern sie uns in den meisten Fällen.
Ein Rockkonzert über zwei Stunden 110 Dezibel halten wir locker aus, aber zwei Minuten Schreien eines Dreijährigen? Da bluten uns bei 70 Dezibel angeblich schon die Ohren. (Da blutet in Wirklichkeit wohl eher die alte innere Wunde, aber gut. Anderes Thema.)
Gehorsam = Unterwerfung unter den Willen eines anderen.
Wer jemanden zum Gehorsam zwingt, übt Macht über ihn aus.
Dass sich das in der Eltern-Kind-Beziehung manchmal nicht vermeiden lässt, sei dahingestellt. Schließlich tragen wir die Verantwortung für Gesundheit und Unversehrtheit des Kindes. Aber gerade dieser Punkt lässt sehr viel Raum für Machtmissbrauch, dieses „Ich meine es ja nur gut mit dir!“
Ein Kind, das zu Gehorsam erzogen wird, kann später nicht selbstständig denken oder selbstbestimmt handeln. Es wird sich immer einen Zwang suchen, dem es sich unterwerfen kann. Warum? Aus der verinnerlichten Angst vor dem Unterdrücker. Und wie soll das gehen? Indem innerpsychisch die angewandte Gewalt und Verachtung umgekehrt wird in scheinbare Liebe.
Klingt kompliziert?
Dann lass es mich so erklären:
Die früheste Kindheit ist die wichtigste Zeit des Lebens. Hier werden die Weichen für alles gestellt. In dieser Zeit haben die Eltern eine überwältigende Macht über das Kind – wir erkennen sie aber nicht. Warum auch? Das Kind meint:
Mama und Papa wollen schließlich nur das Beste für mich, sie sind allwissend, sie sind mein Universum. Ich bin emotional und versorgungstechnisch auf Gedeih und Verderb auf sie angewiesen. Wenn ich nun aber merke, sie begegnen mir mit Härte? Mit dem Ignorieren meiner Bedürfnisse? Mit dem Leugnen und Nicht-Anerkennen meiner Gefühle? Mit Abhärtung? Sie fügen mir manchmal willentlich mit Strafen Leid zu? Heißt das, sie lieben mich nicht?
Nein!, sagt sich das Kind. Denn sein Leben hängt von ihrer Liebe ab. Sie lieben mich doch. Aber offenbar bin ICH schlecht, wenn sie mich so behandeln. Also passe ich mich an. Ich unterdrücke meine Individualität, mein wahres Selbst, ich erbringe Leistung, um Lob zu empfangen, ich unterdrücke meine Gefühle.
Und wenn das Kind dann groß ist?
Dann ist es sehr gut im Unterwerfen, im Anpassen. Es verwechselt dann die Ausbildung seines wahren Selbst mit der Konstruktion einer persona. [Vgl. Gruen 2019, S. 9] Ein sich selbst verleugnender Ja-Sager ist entstanden, der sich anpasst, um dazuzugehören und zu gefallen.
Seine Identität hat das Kind aufgegeben, um sich mit seinen Eltern, den früheren Tätern zu identifizieren.
„Weder Opfer noch Täter nehmen sich als Opfer und Täter wahr.“
Gruen 2019, S. 16.
Und noch eine unschöne Sache passiert, wenn dieses Kind groß ist
Es beginnt, den in sich selbst verleugneten Anteil in anderen abzulehnen, zu verurteilen, zu hassen. Wenn jemand Ausländer, Nachbarn, Kinder etc. hasst, dann hat das sehr viel mehr mit Selbsthass zu tun.
Kennst du das Bild vom Fingerzeig auf den Anderen?
Wenn wir mit einem Finger auf den Gegner zeigen, dann zeigen immer drei Finger auf uns selbst zurück.
Und eine dritte, die entscheidende Sache
Dieses Nicht-mehr-Kind wird seinen Gehorsam selbstverständlich leugnen.
„[…] ein Großteil der Menschen fühlt sich gerade dann besonders bedroht, wenn sie mit der Wahrheit über ihren Gehorsam konfrontiert werden. Diese Bedrohung erinnert uns an die eigentlichen Umstände unserer frühen Entwicklung, die aufs Engste mit dem Gehorsam verbunden sind. Diese Umstände müssen daher unterdrückt werden, weil sie sonst Angst und Terror auslösen würden.“
Gruen 2019, S. 16.
Da haben wir ihn auch schon: den Trigger
Den auslösenden Reiz, der uns ans frühe Trauma erinnern möchte. Jemand bittet „schamlos“ um etwas? Dann reizt uns das vielleicht, weil wir selbst nie Hilfe erhielten. Jemand jammert? Dann werden wir vielleicht furchtbar wütend, weil wir nicht wahrhaben wollen, dass wir selbst nie klagen durften. Das Kind tritt uns in den Bauch? Dann reagieren wir vielleicht über, weil wir in Wahrheit an die Ohrfeigen des Großvaters erinnert werden.
Leugnen tut nicht so weh?
Anstatt die schmerzhafte Wahrheit anzuschauen, begeben wir uns deshalb lieber in kognitive Dissonanz: Wir reden’s innerlich schön und machen passend, was anders verheerend wäre. Dass wir unter miesen Bedingungen aufgewachsen sind, leugnen wir also und wenden den gleichen Terror bei den eigenen Kindern an. Da kommen dann so verallgemeinernde Binsenweisheiten raus wie: „Das macht man so!“
Ach, ehrlich? Wer ist dieses „man“?
Also ich mach das nicht so.
„Die unerträglichen Verhältnisse, in denen das Opfer lebte [werden] aufrechterhalten, moralisch gerechtfertigt und auch noch verteidigt.“
Gruen 2019, S. 18.
Also Klartext: „Na also, ich muss ihm doch Stillsitzen beibringen, sonst kommt er später in der Schule gar nicht klar!“ oder „Sie muss lernen, sich unterzuordnen, sonst landet sie noch im Knast!“
Die Wissenschaft sagt zu diesen und weiteren weit verbreiteten Annahmen: Nein.
Psychologisch betrachtet funktioniert das so:
„Damals waren wir den Erwachsenen, die für uns sorgten, aber uns auch ihren Willen aufzwangen, ausgesetzt. Diese Erfahrung bedroht jedes kindliche Selbst, das sich gerade entwickelt. […] Unsere Entwicklung wird dadurch gestört, dass sie Gehorsam verlangt und eine Identifizierung mit demjenigen, der Gehorsam einfordert. […] Wenn ein Kind [dazu] körperlich und/oder seelisch überwältigt wird und nicht fliehen kann, wird es von Angst überwältigt. Eine Todesangst sucht das Kind heim. Es kann nicht damit leben, dass die Eltern sich von ihm zurückziehen. Es übernimmt, um eine Verbindung zu den Eltern aufrecht zu erhalten, die Erwartungen der Eltern. In dieser Weise wird das seelische Sein eines Kindes in seiner autonomen Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit geradezu ausgelöscht.“
Gruen 2019, S. 19 und vgl. Gruen 1999
Warum? Ein Kind braucht bedingungslose Liebe, wie Luft zum Atmen. (Vgl. Kohn 2005. Ausführliches dazu im Artikel über Bedingungslose Liebe.)
Wenn gerade ein Säugling oder Kleinkind für Autonomie und Unangepasstheit, natürliches kindliches Verhalten etc. mit Abweisung/ Liebesentzug der Eltern bestraft wird, erfährt es laut Gruen Todesangst, die es nicht nur verdrängen, sondern geradewegs abspalten muss. Und da sind wir direkt beim Thema Entwicklungstrauma, das auch Levine, Charf, Maaz, Brisch, Ruppert und weitere Fachleute bestätigen.
Klartext: Erziehen wir unsere Kinder zu Gehorsam, zwingen wir es, die Teile seiner Psyche abzusondern, die ihm zur Gefahr werden. Was das für Folgen haben kann, liest du in Ursachen und Folgen von Entwicklungstrauma.
Kurzer Abstecher zu Schuld und Scham
Dieses Gehorsamsding, das hat also wie oben beschrieben, sehr viel mit Angst zu tun. Jesper Juul schrieb in Grenzen, Nähe, Respekt* sinngemäß, dass Strafen und Gewalt nicht Respekt beim Kind verursachen, sondern Angst vor emotionaler oder körperlicher Gewalt.
Das sollten wir uns immer klarmachen: Gehorsam funktioniert nur über den Hebel der Angst.
Und dann passiert das, was uns ein Leben lang zu schaffen macht – auch in der Frage nach der guten Beziehung zu unseren Kindern – das Kind identifiziert sich in seiner Angst mit dem Erwachsenen und entwickelt Schuldgefühle.
Wie was warum?
Das Kind verinnerlicht Schuld, indem es die eigentliche Schuld des Erwachsenen – der sie sich nicht eingestehen darf – auf seine Schultern nimmt. (Stichwort: Täter-Opfer-Dynamik.)
Das Kind übernimmt damit die Verantwortung für die Beziehung zwischen ihm und seinen Eltern. Es hofft, dass sie es bei Wohlverhalten lieben und nicht bestrafen. Ungefähr so: „Oweia, das war jetzt wohl ganz böse von mir. Jetzt hat die Mama mich gar nicht mehr lieb. Ich muss mich anstrengen und gehorchen, damit ich ihre Liebe verdiene. Ich und mein Verhalten sind dafür verantwortlich, ob zwischen uns Liebe fließt und wie die Stimmung ist.“
Emotionale Erpressung
Und das ist der Oberhorror, denn de facto tragen immer die Eltern die Verantwortung für die Beziehung zwischen ihnen und den Kindern! Und wenn sie diese Verantwortung mittels emotionaler Erpressung und Drohungen abgeben, dann sind zwar sie selbst für den Schaden an der Beziehung verantwortlich. Aber das Kind denkt und fühlt, dass es seine Schuld wäre und schämt sich dafür.
Und dieses Schuldgefühl, das klebt an dem Kind. Auch wenn es längst erwachsen ist. Lies mehr dazu in Belastende Schuldgefühle bei Eltern.
Mit Scham ist es genauso: Lies hier hier mehr über Die Schamfalle.
Schmerzhafte Schuldgefühle und ständige Scham sind zwei scheußliche Folgen von Gehorsam. Und da Gehorsam solche Schäden an der Kinderseele anrichtet, sage ich klar: Diese Art von Erziehung ist Gewalt.
Das Kind befindet sich in einer unerträglichen Lage
„Während wir ständig damit rechnen, uns schuldig fühlen zu müssen, können wir gleichzeitig die Schuld nicht bewusst aushalten, weil sie unseren Selbstwert untergräbt. So entstehen auch Wut, Aggressivität und Gewalttätigkeit, weil wir uns minderwertig fühlen. Da die Schuldgefühle benutzt werden, um uns gefügig zu machen, können wir uns nicht durch Übernahme von Verantwortung befreien […].“
Gruen 2019, S. 27.
Und diese abgespaltene Schuld die müssen wir fortan immer auf die Anderen abwälzen. Letztlich deshalb, weil wir uns im Innersten nicht wertvoll fühlen, sobald diese hässliche Schuld wieder auftaucht.
(Kennste bestimmt? So Leute, bei denen immer die Anderen Schuld haben? Dieses Phänomen gibt’s auch gesamtgesellschaftlich zuhauf.)
Ein Teufelskreis entsteht: Wir machen (wie unsere Eltern vormals) die Kinder verantwortlich.
Stopp! Wir können diesen Kreislauf unterbrechen. Wider den Gehorsam!
Mehr zu diesem Thema mit Ausblick auf gesellschaftliche Entwicklungen hat Psychoanalytiker Arno Gruen in Wider den Gehorsam* aufgeschrieben. Ein kurzer Essay von 90 Seiten, den jeder erwachsene Mensch gelesen haben sollte.
Wenn dein Kind dich also mal wieder in den Wahnsinn treibt, rebelliert und sich wild seiner glitzerstrahlenden Kindheit hingibt – I feel you. Aber ich beglückwünsche dich auch zu ebendiesem freien Kind.
Deine Anne
PS: Und nein, ein Kind, das ohne Gehorsam erzogen wird, hat es nicht später in Schule, Uni oder Arbeitsleben schwer. Regeln einhalten, Grenzen respektieren, sich angemessen anpassen, das lernen kleine Menschen durch gutes Vorbild. Nicht durch Angst.
PPS: Diesen Artikel zu teilen hilft dabei, den Mythos vom „guten alten Gehorsam“ platzen zu lassen. Gut fürs Karma also. 🙂
PPPS: Belasten dich die Auswirkungen deiner früheren Erziehung zu Gehorsam? In einer Selbstbegegnung nach IoPt können wir mit unseren abgespaltenen Gefühlen in Kontakt kommen und Traumatisierungen integrieren. Lies hier, wie die Selbstbegegnung abläuft und schreib mir bei Interesse an anne@weltfremd.net ♥
Literatur:
Antipädagogik, Beziehung statt Erziehung, beziehungsorientiert, Entwicklungstrauma, Gehorsam, Scham, Schuldgefühle, Schuldgefühle als Mama, toxische scham, Trauma durch Erziehung
Lisa
Ich liebe alle deine Beiträge und finde sie so interessant mit Kopfnicken sitze ich da sauge jeden Satz so in mich ein – es macht alles so Sinn und vieles kenne ich schon aber es so deutlich sachlich nochmal zu lesen tut einfach gut ! Danke für deine Mühe liebe Grüße Lisa
Anne Albinus
Lisa, liebsten Dank für deine Wertschätzung! Viele Grüße
Wolf Matlok
Guten Tag…
Und vielen Dank für diesen Artikel.
Meine Frage wäre, für Kinder welchen Alters kann dieser Artikel gedacht werden?
Viele Grüße
Wolf
Anne Albinus
Hallo Wolf und danke für die Meldung!
Ich denke in Bezug auf Gehorsam gar nicht so sehr in einer Alterskategorie, sondern eher in Form einer altersübergreifenden Haltung.
Es ist klar, dass jede Familie feste Regeln hat und es auch zur Sicherheit aller und zur Wahrung der Integrität aller Familienmitglieder Grenzen gibt. Aber jenseits dessen ist doch die Frage: Sehe ich einen kleinen Menschen in der Hierarchie unter mir und fordere, dass er sich anpasst und bilde ich mir ein ihn unterdrücken und formen zu können und müssen? Das ist für mich Gehorsam.
Eine andere Haltung ist: Wir begegnen uns auf Augenhöhe, weil du, mein Kind, von Beginn an ein MENSCH bist. Zwar habe ich mehr Erfahrung und schenke dir liebevolle Führung, aber ich will dich kennenlernen mit deinen Neins, deinen Warums und all deiner Individualität.
Um aber auf deine Frage zu antworten: Ich persönlich denke, dass diese Haltung gerade sehr früh von Bedeutung ist, sagen wir, von Geburt bis 3 Jahre. Denn danach können wir von Kindern schon eher verlangen, dass sie mittels Erklärungen in bestimmten Kontexten (Verkehr, Konzert, Schule, Familienfeier, Baumarkt etc.) mal „funktionieren“. Und von den kognitiven Fähigkeiten eines Kindes abgesehen, ist das Zeitfenster von der Zeugung bis zum 3. Geburtstag eine unfassbar sensible Zeit, in der Zurückweisung, Demütigung, Isolation, fehlende Co-Regulation, schlechte Bindung u.ä. zu einem Entwicklungstrauma führen können. Das heißt nicht, dass wir die Kinder verwöhnen/ keine Grenzen setzen/ all ihre Wünsche erfüllen sollen. Aber es heißt nach meinem Verständnis, dass wir sie liebevoll begleiten und in ihren Gefühlen und ihrem Ausdruck mit welchem Verhalten auch immer ernst nehmen und versuchen zu verstehen, warum sie sich wie verhalten.
Zu Entwicklungstrauma habe ich einen Artikel geschrieben und auch zur Frage, wie wir Kleinkinder dazu bringen, sich anständig zu verhalten bzw. wie wir ihr „schlechtes Benehmen“ besser verstehen können.
Auch über weiteren Austausch freue ich mich! 🙂
Herzliche Grüße
Anne