eltern zweifeln sind unsicher in erziehungsfragen

Verunsicherung, Zweifel, Grübelei: Über mütterliche Unsicherheit und zu viel Nachdenken

Ich lade dich herzlich ein, diese Gedanken zu teilen.

Kennst du solche Sprüche? „Lies nicht so viele Bücher über Erziehung!“, „Mach dir nicht über alles solche Gedanken!“, „Wie abhängig bist du, dass du für jeden Mist einen Ratgeber brauchst?“, „Du musst doch auch mal bisschen intuitiv handeln – du bist ja viel zu verkopft!“

Letzte Woche saßt du total zerrissen und unsicher auf der Couch, hast bei Jesper Juul nachgelesen, wie du mit deinem pubertierenden Großen umgehen sollst, wenn er mit Schimpfworten um die Ecke kommt. Heute früh hast du gegoogelt, wie du den Tobsuchtsanfall deiner Dreijährigen händelst, wenn sie den Fernseher ausschalten soll. Du fragst dich: Wie viel Medienkonsum ist gesund? Sind Quetschies okay oder der Turbokiller schlechthin? Wie kannst du die Hausaufgaben mit deinem Kind am besten bewältigen? Die Elternzeitschrift liest du begierig durch nach Tipps zur Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung?

Erkennst du dich wieder? Misses Superperfectionist? Frau Zerdenkerin? Madame pourqoi?

Dann bist du hier richtig. Schauen wir uns in diesem Artikel an:

  • Was Verkopftheit über dein eigenes Entwicklungstrauma aussagt
  • Warum Eltern mehr lesen sollten
  • Warum Unsicherheit eine Stärke ist

Als erstes die fieseste Frage:

Woher kommt eigentlich deine Vieldenkerei?

Die neusten Erkenntnisse aus der Neuropsychologie zeigen, dass Vieldenken, Grübeln, Dauerabwägen, Ständighinterfragen, Gedankensucht – nenn’s, wie du willst –, eine Folge früher Traumatisierungen, also Entwicklungstraumata sind. Was ein Entwicklungstrauma ist und warum gerade wir Deutsche davon massiv betroffen sind, erfährst du in diesem Artikel: Hitler im Herzen: Erziehung und Trauma.

Entwicklungstrauma vs. Schocktrauma

Hier die kurze Erklärung:

Ein Schocktrauma entsteht durch ein Ereignis mit Todesangst – bei Vergewaltigung, einem Unfall, im Krieg, bei einem Einbruch etc.

Stell dir dein Leben als einen blau gewebten Flickenteppich vor: Darin ist das Schocktrauma ein roter Faden, den du therapieren, also herausziehen kannst, ohne dass der Teppich in seiner Gesamtheit verändert wird. (Teppichmetapher vgl. Dami Charf 2018)

Ein Entwicklungstrauma hingegen entsteht ab der Zeugung und in den ersten drei Lebensjahren – i.d.R. durch mehrere oder häufige Verletzungen bzw. eine traumatische Geburt. Dazu gehören: in der Schwangerschaft nicht gewollt sein, als Baby alleine schreien gelassen werden, als Kleinkind bei Trotz ignoriert, bestraft, schlecht gemacht werden, keine Geborgenheit und Sicherheit durch die Eltern erfahren etc.

Durch ein Entwicklungstrauma entstehen negative Glaubenssätze, also unbewusste schlechte Grundüberzeugungen, wie: „Ich bin irgendwie anders.“, „Die Welt ist nicht sicher.“, „Ich störe.“, „Ich muss mich anstrengen.“, „Ich genüge nicht.“ (vgl. Stahl* 2015)

Alle frühen Verletzungen und Glaubenssätze bilden eine Art Brille, durch die wir die Welt als Erwachsene sehen. Man könnte grob sagen: Wie wir als Fötus/ Baby/ Kleinkind behandelt werden, behandeln wir uns selbst das gesamte restliche Leben lang.

Ein Entwicklungstrauma – um beim Bild des Teppichs zu bleiben – ist also eine Melange aus blauen und roten Fäden. Zögest du dort alle roten heraus, würde zum Schluss kaum noch ein Teppich übrig bleiben.

Wie beeinflusst die frühe Verletzung dich bis heute?

Ein Entwicklungstrauma ist mit seinen Folgen also auch Bestandteil deiner Persönlichkeit. Dein Körper speichert es in bestimmten Dauerverspannungen im Körper. Dein Charakter hat es durch Grundüberzeugungen und seine spezifische „Wie sehe ich die Welt?“-Brille gespeichert. Deine Seele hat es in Überlebensstrategien und bestimmten Handlungsmustern (deiner „Intuition“) gespeichert.

So. Und damit sind wir – tadaa – bei der Ursache für deine Kopflastigkeit: Es ist dein frühes Trauma. Wusch. Das wolltest du jetzt vielleicht gar nicht wissen, sorry. Aber das kommt nicht von mir. Das stammt aus der aktuellen Neuropsychologie. Dami Charf schreibt in ihrem durchweg hilfreichen Buch Auch alte Wunden können heilen*:

Häufig bilden sich [bestimmte] Persönlichkeitsmerkmale heraus, anhand derer man Menschen mit frühen Verletzungen erkennt. Eines ihrer wichtigsten Merkmale ist das „Verkopftsein“. Die kopflastige Art an die Welt und sich selbst heranzugehen, ist eine der schwerwiegendsten Folgen früher Traumatisierungen. Fatalerweise ist sie Überlebensressource und Falle zugleich. Eine Ressource deshalb, weil der Intellekt oft sehr gut funktioniert und die Welt handhabbar macht. Jedoch fehlt genau dadurch das lebendige Verbundensein mit der Welt.

Charf, S. 114.

Okay. Was machen wir jetzt mit der Information. Können wir also nix gegen tun? Doch. Schon mal Charfs Buch* lesen. Aber sonst?

Warum Eltern mehr lesen sollten

Widerspricht sich das nicht? Die Verkopftheit bekämpfen mit noch mehr Denken?

Möglich.

Die Antwort ist komplex.

Dass du ein viel denkender, alles hinterfragender Mensch bist, der gerne optimiert und das Beste für sein Kind will, kannst du in einem ersten Schritt ganz cool: akzeptieren. Es ist Teil deiner Persönlichkeit. Vielfalt ist toll. Dass du so gut informiert bist, ist eine deiner Stärken.

Klar, erzeugt sie oft Druck und Anspannung: Unsicherheit fühlt sich nicht gut an. Aber wenn wir sie nicht als Unsicherheit interpretieren, sondern als Recherchekompetenz, dann ist schon wieder ein kleiner Minderwertigkeitskomplex aufgelöst.

Mit einer besseren Selbstfürsorge und einem achtsamen Nachspüren deiner wahren Bedürfnisse, hast du schon einen zweiten Schritt getan. Lies mehr dazu in Selbstfürsorge für Mütter: Warum sie so wichtig ist und wie sie gelingt.

Ich bin unsicher in der Erziehung
Denke ich zu viel über Erziehung nach? Fehlt mir die Intuition?

Wenn du reflektierst, hinterfragst und recherchierst, kommst du automatisch auf die Spuren deiner eigenen Biografie. Das kann erschütternd und verstörend sein. Im ersten Moment. Im nächsten Schritt ist es aber heilsam. Das Leben mit Kind ist – selbst wenn du nicht liest oder therapiert wirst – automatisch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit. Warum das Ganze also nicht bewusst gestalten? Anstatt unreflektiert schädlichen Erziehungsmustern zu folgen? Zum Beispiel dein Kind für deine Wut verantwortlich machen? Oder dein Kind demütigen? Oder es unbewusst mit Lob manipulieren?

Dein Kind bringt dich an deine Grenzen.

Dein Kind trifft deine wunden Punkte.

Dein Kind bringt dich mit deinem inneren Kind in Kontakt. Factum.

Lesen stärkt deshalb die Beziehung zu dir selbst und deinem Kind: Du folgst nicht mehr automatisch ablaufenden destruktiven Handlungsmustern. Stattdessen hinterfragst du schädliche Erziehungsmethoden und arbeitest an dir.

Was kann es Größeres für dich und dein Kind geben?

Ich habe in meiner Empfehlungsliste 30 wertvolle Elternratgeber zusammengestellt. Daneben gibt es noch haufenweise andere tolle Literatur. (Und weltfremd. Hier bist du natürlich auch weiterhin eingeladen. Trag dich gerne ganz unten in den Newsletter ein, um nichts mehr zu verpassen.♥)

Unsicherheit hat nicht nur Nachteile

Du merkst schon: Selten ein Schaden ohne Nutzen.

Zusammengefasst heißt das: Es ist gut, dass du unsicher bist. Es ist gut, dass du viel über Erziehung nachdenkst. Es ist auch gut, dass du manchmal Zweifel hast.

Kennst du den sogenannten Dunning-Kruger-Effekt? Der kommt aus der Psychologie und besagt, dass wir, wenn wir schlecht informiert sind, unsere Kenntnisse und unser Urteilsvermögen überschätzen. Er besagt umgekehrt, dass wir umso unsicherer werden, je mehr wir wissen.

Was heißt das? Richtig: Wenn du unsicher bist, bist du auf dem richtigen Weg. Ich gratuliere dir.

Es ist Zeit für eine Portion Wertschätzung

Unsicherheit, Anspannung und allerlei Schlechtes wird man oft erst los, wenn man es akzeptiert hat. Also wie wär’s, wenn du dich einfach mal wertschätzt und akzeptierst? Kannst du schlecht? Dann mach ich das mal für dich: Deine Grübelei, deine Zweifel, deine Dauergedanken – klar fühlen sie sich nicht immer gut an. Entspannt ist anders. Aber, deine lieben Zweifel und Gedankenschleifen haben dir auch ein großes Geschenk gemacht. Und deinem Kind. Sie haben eine unglaubliche persönliche Weiterentwicklung angestoßen. Sie haben alte Erziehungsmuster hinterfragt. Sie haben in deiner eigenen Kindheit ein Stück weit aufgeräumt. Sie haben die Beziehung zu deinem Kind verbessert.

Statt „kopflos“ einer „Intuition“ zu vertrauen, die eigentlich ein Speicher aller (negativen) Glaubenssätze und (verletzenden) Erfahrungen sind, haben sie dich dazu angehalten, deine Vergangenheit zu durchleuchten, um die Gegenwart und Zukunft deines Kindes zu verschönern.

Dein Kopf treibt dich an. Deine Zweifel motivieren dich. Dein Herz geht auf und dein Körper kann sich entspannen. Das eine fließt zum anderen.

Deshalb danke, liebe Zweifel. Danke, liebe Unsicherheit. Ihr wollt mich beschützen. Ihr wollt mir helfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Vielleicht lege ich euch irgendwann selbstbewusst und zufrieden ab. Bis dahin helft ihr mir, das Leben zu gestalten, das ich leben will. Und die Mama zu werden, die dieses unglaubliche Geschenk (jaaa, mein Kind!) verdient hat.

Das Problem mit der Intuition

Wie eben schon angedeutet, ist Intuition kein angeborener Instinkt. Sie beantwortet nicht die Frage, wie wir bei Pubertierenden den Medienkonsum regeln können oder beim Wutanfall eines Dreijährgen im Supermarkt reagieren sollen. Intuition ist im Körper, im Unterbewusstsein abgespeichertes Erfahrungswissen – zum allergrößten Teil aus den Erfahrungen gespeist, die wir selbst als Kind gemacht haben.

Wenn du auf den muffelnden Dreizehnjährigen oder die vor Tränen japsende Zweijährige also intuitiv reagierst, ist das meistens ungünstig. Hinzu kommt, das Scham, Wut und Verzweiflung in den herausfordernden Situationen auch noch dich selbst überkommen. Wenn du dann nach Bauchgefühl reagierst – dann kommt vielleicht ein abschätziger Kommentar oder ein Klapps auf die Finger raus.

Kompetent zu reagieren fällt denjenigen Menschen leichter, die oft Gelegenheit hatten, diesen Umgang mit Kindern bei anderen hautnah mitzuerleben. Sei es, weil ihre eigenen Eltern auf diese Weise reagiert haben, oder sie oft miterleben konnten, wie andere auf diese Weise mit Kindern umgehen.
Für alle anderen ist es harte Arbeit. Sie müssen nicht nur gegen ihre ersten Impulse angehen, es fühlt sich für sie auch unnatürlich an.
Und immer, wenn sich etwas neu und nicht natürlich anfühlt, tauchen Unsicherheiten auf.

Grolimund (Quelle s. unten).

Wenn du dich also auf die Reise begibst, und dein Kind wertschätzend begleiten und kompetent erziehen möchtest, musst du deine Zweifel, deine Unsicherheit, dein Hinterfragen schlichtweg: aushalten.

Warum Gefühle aushalten für dich und dein Kind eh der gesündeste Weg zum Glück ist, erfährst du in: Wie gehe ich mit großen Gefühlen meines Kindes richtig um?

Alle uneins?

Erschwerend kommt hinzu, dass es momentan keinen Konsens in Expertenkreisen darüber gibt, was die „optimale Erziehung“ für Kinder sein soll. In den Medien werden gerne Extrembeispiele gezeigt, die polarisieren. Jeder „Experte“ hat seine eigenen Wertevorstellungen, auf denen seine Empfehlungen fußen. Sie zu konsumieren, regt trotzdem dein eigenes Reflexionsvermögen an. Du kannst dich jederzeit fragen: Wenn der Typ die und die Tipps gibt und diese oder jene Meinung vertritt – würde ich mir ihn als Lehrer oder Erzieher für mein Kind wünschen? Sind die Ideen dieser Autorin kompatibel mit meinen eigenen Werten? Ist die Idee menschenfreundlich? Ist der Ratschlag von Empathie und Liebe geprägt?

Tja. Keiner hat gesagt, dass das Ding mit der Kindererziehung easy sein würde. Verlier nicht den Humor. Und denk immer dran: Auch in unsicher bist du – ich werde nicht müde, es zu wiederholen – die beste Mama der Welt. ♥

Go on, ich glaub an dich!

Sichere Grüße

Deine Anne

PS: Denk bei all dem immer dran: Die perfekte Mutter kann und soll es nicht geben. Mehr dazu in: Psychoanalytiker warnt: Hör endlich auf eine „gute“ Mutter zu sein. (Achtung: kilometerlanger Artikel, der schockieren und provozieren kann!)

PPS: Teil die Gedanken doch gerne mit anderen unsicheren Eltern und sorge dafür, dass sie sich besser fühlen. Sie haben es verdient! ♥

Literatur:

Charf, Dami: Auch alte Wunden können heilen. Wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und wie wir uns davon lösen, Kösel 2018.*

Stahl, Stephanie: Das Kind in dir muss Heimat finden, Kailash 2015.*

Quellen:

Kruger, Justin und Dunning, David: Unskilled and unaware of it. How difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments. In: Journal of Personality and Social Psychology. Band 77, Nr. 6, 1999, S. 1121–1134

Grolimund, Florian über Unsicherheit: https://www.fritzundfraenzi.ch/erziehung/elternbildung/grolimund-mehr-mut-zur-unsicherheit?page=all

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als Mama zu viel nachdenken, Grübeln, Hinterfragen, mütterliche Instinkte, mütterliche Intuition, Unsicherheit, Zweifel

Kommentare (4)

  • Ich bin ein sehr nachdenklicher, abwägender Mensch. Bei mir kommt nichts aus der Pistole geschossen. Aber ich konnte mich schlussendlich immer auf meine Intuition verlassen. Der Artikel bringt mich kurzzeitig ins wanken.

    Wenn ich mich nun garnicht mehr meiner Intuition hingeben kann, dann bin ich komplett haltlos. Meine Gefühle und meine Geschichte gehören zu mir und diese wird auch die Mutter-Kind Beziehung prägen. Ich finde das OK.
    Das heißt natürlich nicht, dass ich mich nie hinterfrage und ich mich nicht ab und zu ändern oder weiterentwickeln möchte! Im Gegenteil, deshalb lese ich ja auch diesen Beitrag. 😉

    Es mag bei anderen vielleicht anders sein, aber meine Kindheit wurde glücklicherweise vorwiegend positiv geprägt. Deshalb sehe ich meine Intuition auch nicht als negativ oder traumatisiert an. Und deshalb möchte ich meinem Bauchgefühl weiterhin folgen mit dem Wissen, dass es nicht immer Recht hat.

    Danke, ich finde den Artikel super spannend und ich habe viel dazu gelernt!
    Ich mag es, dass die Unsicherheiten, die jeder (!) Elternteil hat, hier so positiv beleuchtet werden.

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Ich bin Anne, leidenschaftliche Schreiberin und immerfort lernende Mutter zweier Kinder. Süchtig nach anspruchsvollen Büchern und mit einer Schwäche für ausgezeichneten Schwarztee. Auf meinem Blog WELTFREMD setze ich mich seit 2019 für friedvoll-authentische Elternschaft ein und kläre über Entwicklungstrauma auf. ♥

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